Heute, in einer Zeit, in der Kleidung ein kurzlebiges Massenkonsumgut von der Stange geworden ist, ist den meisten Leuten der Begriff „Schiffchen“ in Verbindung mit Textilien fremd. Die Bezeichnung „Schiffchen“ leitet sich aus dessen Form und Funktion ab, welche es beim Weben mit dem Handwebstuhl übernimmt. Es sieht einem flachen Transportkahn ähnlich, der hier die Spule mit dem darauf aufgewickelten Schussfaden befördert. Mit ihr gleitet das Schiffchen horizontal durch das Webfach der vertikal gespannten Kettfäden. Ist das Schiffchen auf einer Seite angekommen, wird das Webfach durch Verlagerung der Kettfäden neu gebildet und wieder zurück zur anderen Seite geführt. Auf diese Weise entsteht das Gewebe.
Weberschiffchen von Ilse Mays Webstuhl |
Die beiden Enden des hölzernen Schiffchens sind mit Metallspitzen verstärkt. Dies war vornehmlich bei Schiffchen von mechanischen Webstühlen üblich, denn aufgrund deren Schussvorrichtung wirkten höhere Kräfte auf das Objekt. Bei Ilse Mays Webstuhl wurde das Schiffchen jedoch von Hand geführt, die Metallspitzen wären nicht nötig gewesen. Im Inneren des Schiffchens sind zwei spitze Metallstäbe zur Befestigung der Spule. Der von ihr abgewickelte Schussfaden lief durch eine metallene Schlaufe auf der anderen Seite. Weiter wurde der Faden durch die zwei Löcher an der Langseite des Schiffchens geführt. An der Unterseite sind zwei leichtläufige Rollen aus Holz, auf denen das Schiffchen gleitet.
Auf der Oberseite ist die Jahreszahl 1923 zu lesen, vermutlich das Baujahr des Schiffchens und des Webstuhls. Diese Annahme deckt sich mit dem Jahr des Erwerbs des Webstuhls durch Ernst May. Er hatte ihn 1923 auf der ersten Bauhaus-Ausstellung in Weimar für seine Frau Ilse gekauft. Der Webstuhl kam zunächst im Wohnhaus der Familie May in Breslau-Leerbeutel unter. Erst in der ebenfalls von May entworfenen Villa von 1925 in Frankfurt-Ginnheim erhielt der Webstuhl einen angemessenen Platz. Dort stand er auf der Galerie des Wohnraums.
Der Webstuhl in der Villa May, Frankfurt am Main Bildquelle: Innendekoration, Heft 1, 38. Jg., Darmstadt 1927, S. 45 |
Der Verbleib des Webstuhls ist heute unbekannt. Umso erfreulicher ist es, dass das Weberschiffchen von den Nachkommen Ernst Mays in die Sammlung der ernst-may-gesellschaft e.V. übergeben wurde. Als kleines, zunächst recht unscheinbares Relikt erinnert es an seine prominente Vergangenheit und schlägt im Jahr des Bauhaus-Jubiläums die Brücke zum Neuen Frankfurt, das seinem großen Jubiläum 2025 entgegensieht.
Text: Christina Treutlein